Abschied von meinem alten Leben

Ich glaube, ich bin wieder da. 

Anders, nicht vergleichbar mit früher, doch ich bin irgendwie wieder da. 

Heute, ein Jahr nach meiner Diagnose, gehe ich das erste Mal wieder ins Kino. Ein ganz normaler Nachmittag mit einer Freundin (die 20:00 Uhr Vorstellung traue ich mir noch nicht zu).

Es ist so viel passiert und doch auch irgendwie gar nichts. 

Nach außen betrachtet, habe ich in dem letzten halben Jahr hauptsächlich Netflix konsumiert. Na ja und eben gewartet, dass mein Körper sich von den Strapazen der Chemotherapie, der Operationen und der Strahlentherapie erholt.

Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass ich das Gröbste hinter mir habe.

Meine liebe Freundin Johanna, die ich letzte Woche besuchen durfte, sagte zu mir: „Sarah, du bist definitiv auf der aufsteigenden Seite des Berges angekommen.“

Und ja, sie hat recht. Der Berg ist steil und der Weg nach oben noch lang und steinig, aber es geht bergauf mit mir. ⛰️

Johanna und ich haben damals während unserer „wir leben, wie bei Friends“-Phase in Hannover quasi das Deep Talking erfunden. Auf die Flasche Rotwein dazu müssen wir bzw. ich dennoch eine Weile verzichten. 

Genau wie das Kinoerlebnis in dem Kino, indem ich quasi meine komplette Teenagerzeit… nennen wir es … „gelebt“ habe, war der Besuch bei Johanna wie Normalität. Es war wie früher, selbst wenn sie, genau wie ich, schon lange nicht mehr in Hannover wohnt. 

Irgendwie fühlte es sich wie zu Hause an.

Nein, nicht irgendwie, es war zu Hause

Nur ich war eben anders.

Was bedeutet „zu Hause“, wenn du kein „zu Hause“ mehr hast?

Während der Chemotherapie habe ich mein „zu Hause“ verloren. Jedenfalls, wenn du „zu Hause“ als das eigene Haus, indem du mit deinem Partner oder deiner Partnerin lebst, betiteln möchtest. 

Da ich auf Hilfe angewiesen war und mein Ehemann mehr Interesse an einem unbeschwerten Leben mit Partys, Ausflügen und Urlauben hatte, als mit einer kranken, kahlköpfigen und bettlägerigen Ehefrau auf dem Sofa, musste ich (ob ich wollte oder nicht – und glaub mir, ich wollte es nicht!) zurück zu meiner Mum ziehen. 

(Seien wir mal ehrlich – ich passte auch irgendwie nicht mehr wirklich ins Ambiente des Designerhauses meines Ehemanns. 🙄)

Wo ist denn „zu Hause“ ?

Die kleine Wohnung, in der ich gerade sitze und schreibe, ist nicht mein neues Zuhause. So viel weiß ich schon mal. 

Aber da wo das Haus steht, was ich mal Zuhause nannte, da ist mein zu Hause irgendwie auch nicht mehr. 

Ich bin eine Nomadin, obwohl ich früher nie dachte, dass das mal mein Schicksal sein würde. 

Here I am ✌🏻

Durch den Besuch bei meiner Freundin (und ja ich war nen bisschen länger da) habe ich das erste Mal gespürt, dass „zu Hause“ für mich ein völlig fremd besetzter Begriff war. 

Gewusst habe ich das vielleicht schon immer. Ich habe mich bis jetzt in keiner Stadt, in der ich gelebt habe (und das waren einige bis jetzt) so wirklich heimisch oder eben zu Hause gefühlt. 

Doch bei Johanna und den vertrauten und liebevollen Menschen um sie herum, da hat mein Herz eine Antwort gespürt: 

„Sarah, Zuhause ist da, wo deine Menschen sind und nicht mehr da, wo dein Haus steht.“

Zurück ins eigene Leben finden

Wenn du lange wegen einer Krankheit krankgeschrieben bist, hast du viel Zeit zum Nachdenken. 

  • Was will ich aus meinem Leben machen?
  • Wie möchte ich eigentlich leben? 
  • Will ich beruflich da weiter machen, wo ich aufgehört habe? Oder will ich was ganz Neues machen? 
  • Passen die Menschen in meinem Leben eigentlich noch zu mir? 
  • Wer ist eigentlich die Person, die ich sein möchte?
  • Wo möchte ich leben? 
  • Will ich mich weiter von meinen Ängsten oder gesellschaftlichen Normen leiten lassen?
  • usw. 
 
Kurz und knapp: Ich habe noch nicht die Antwort auf all diese Fragen. Doch zumindest weiß ich schon die ungefähre Richtung. 💪🏻

Selbstständig - ja Bitte - Gesangsschule? - Nein Danke

Ich war immer selbstständig und daran werde ich auch nichts ändern. Eine 9 to 5 Anstellung in einem Unternehmen, was mir vielleicht Sicherheit, aber keinen Sinn bieten kann, kommt für mich niemals infrage. 

Scheiß auf Sicherheit. Der Krebs hat mir gezeigt, sowas wie Sicherheit existiert im Leben nicht. Egal wie viele Versicherungen du hast, egal wie gut du für deine Rente vorsorgst. Eine Sicherheit, dass du deine Rente und die zig Vorsorgen erreichst oder nutzen kannst, gibt es nicht. 

Sicherheit ist eine Illusion, damit du im System besser funktionierst und meinst deine Ängste nicht spüren zu müssen. Meinetwegen auch, um nachts besser schlafen zu können. 

Doch die Gesangsschule, die ich in Hannover und Braunschweig geführt habe, werde ich nicht wieder aufleben lassen. 

Das Thema Gesang ist für mich irgendwie… durch. Früher war Singen das Größte für mich. Anderen meine Leidenschaft beizubringen als Vocal Coach war die befriedigendste Tätigkeit, die ich mir vorstellen konnte. 

Doch auch das Singen gehört irgendwie jetzt zu meiner Vergangenheit, zum Leben der alten Sarah, vor dem Krebs. 

Je lebendiger ich mich nach und nach fühle, desto mehr brennen andere Themen, andere Hobbys und Tätigkeiten in mir, wie zum Beispiel das Schreiben. 

Auch Design gehört dazu. Ich hatte schon immer ein Händchen für Ästhetik, was vielleicht auch durch mein früheres Architekturstudium zu begründen ist. 

Ich habe mich so viel im Online-Marketing und Personal Branding weiter gebildet, dass mich auch diese Themenfelder immer wieder begleiten. 

Und gleichzeitig möchte ich Menschen, vor allem Frauen, ermutigen und ermächtigen ihren Traum zu leben, sich selbstständig zu machen, den gesellschaftlichen Standards zu entwachsen und mutig ihr eigenes Ding machen. 

Was mache ich jetzt damit?

Erstmal mache ich hier weiter. 

Die Richtung stimmt, selbst wenn ich das Ziel noch nicht sehen kann. 

Und ganz ehrlich? 

Mehr muss ich doch auch noch gar nicht wissen. 

Ich habe so viele Dinge in meinem Leben hinterfragt und so viele Antworten schon gefunden. 

Ich weiß, dass ich ans Meer ziehen will und sobald meine Akuttherapie vorbei ist, werde ich das in Angriff nehmen. 🌊

Von der Erlaubnis nicht alles vorhersagen zu müssen

Ganz ehrlich, ich bin ein Jonny Controlletti und ich liebe es Pläne zu schmieden und Konzepte auszuarbeiten. Ich könnte den ganzen Tag das Design meiner Webseite verändern, ein neues Branddesign kreieren und mir geniale Konzepte für eine Selbstständigkeit als Marketing Beraterin, Personal Brand Expertin oder New Work Managerin ausdenken.

Ich fühle mich dabei total produktiv und drehe mich tatsächlich einfach nur immer wieder im Kreis.

Diese Erkenntnis war hart, quasi wie ein Schlag ins Gesicht. 

Ich könnte so viel, doch was will ich eigentlich? 

Hast du dich das mal gefragt? Was eigentlich alles deine Kompetenzen, Talente und Stärken sind und was für tolle Dinge du damit tun könntest, wenn es nicht … sagen wir, irgendwas geben würde, was dich davon abhält? 

Ich könnte so viel

Doch das ist aktuell nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, gesund zu werden und zurück ins Leben zu finden. Bloß weil ich so viel könnte, bedeutet es nicht, dass ich auch so viel machen sollte. 

Auch das ist eine Erkenntnis, die ich in den letzten Monaten gewonnen habe. Bloß weil etwas möglich ist, muss ich es nicht tun. 

Ich versuche, mich auf das Wesentliche zu fokussieren. 

Tun, was mir guttut. Dazu gehört das Schreiben, selbst wenn meine Polyneuropathie geplagten Finger längst nicht mehr so agil über die Tasten fliegen, wie früher. 

Meine Freunde tun mir gut, selbst wenn sie gerade so weit entfernt sind. 

Und natürlich ein bisschen Normalität, wie ein Kinobesuch, ein Spaghettieis in der warmen Sommerluft oder ein Ausflug zu Ikea, um noch ein paar Kerzen für meine Wohnung zu besorgen. 

Dinge die früher ganz normal waren, die ich mir jetzt jedoch hart zurück erkämpft und erarbeitet habe. 

Und reicht das nicht? 

Reicht das nicht an Dingen, die ich aktuell tun könnte?

Mein altes Leben existiert nicht mehr

Die Ansprüche an Normalität werden geringer, wenn du am Abgrund gestanden hast. 

Im Februar dachte ich noch, ich würde nie wieder normal laufen können, mit 2 tauben Füßen. Heute kann ich halbwegs normal gehen, trotz 2 tauber Füße. Zwar kann ich meine Tanzkarriere an den Nagel hängen und auch der Marathon wird mit diesem Fußgefühl (bzw. nicht -gefühl) vermutlich in diesem Leben nichts mehr, aber ich kann wieder gehen. Ohne Rollator. 

Und ich bin zufrieden, es ist okay. Ich lebe! Und das ist eben der Preis, den ich dafür bezahlen musste. 

Instrumente spielen mit tauben Fingerspitzen… ist fast unmöglich. Auch hiervon kann ich mich verabschieden. Früher habe ich Flöte und Geige gespielt. Heute spüre ich die Löcher der Flöte oder die Saite der Geige nicht mehr. 

Doch auch das ist okay. Es ist kein Weltuntergang mehr, wie noch vor einigen Monaten. 

Vielleicht habe ich mich damit abgefunden, dass es okay ist und ich mein altes Leben nicht mehr zurück bekommen werde. 

Würde ich mein altes Leben wieder haben wollen?

Ganz ehrlich? 

Ich glaube nicht. Zwar hätte ich auf den Krebs echt gut verzichten können, doch auf die Erkenntnisse und innere Ruhe, die ich durch diesen krassen Prozess gewonnen habe, will ich nicht mehr missen. 

Man sagt ja, „Krebs verändert dich“ und ja, das tut er. 

Mittlerweile sehe ich das Positive, mittlerweile erkenne ich auch im Alltag das Positive. Ich erlebe so viel mehr Freude, als noch vor 1,5 Jahren, als ich noch nichts von dem Tumor in meiner Brust geahnt hatte. 

Die Frau mit den langen blonden Haaren bin ich nicht mehr.

Als ich das vergangene Jahr keine Haare mehr hatte und ich vom Cortison so aufgeschwemmt war, dass ich nichts von mir selbst im Spiegelbild erkennen konnte, habe ich mir mein altes Ich so sehr zurückgewünscht. 

Die Frau, die ich mal war, bevor Krankheiten und Nebenwirkungen Besitzt von meinem Leben ergriffen hatten. 

Ich habe mir abgewöhnt in den Spiegel zu sehen. Etwas, dass ich früher ganz selbstverständlich mehrfach täglich getan habe. Vielleicht war ich sogar etwas selbstverliebt. Ich fand mich attraktiv, weiblich und einfach schön. 

Diese kahle, fette, kranke Frau im Spiegel, das war ich einfach nicht. Das wollte ich nicht sein. Es fühlte sich an, wie ein Kampf, den ich gegen mich selbst geführt habe. 

Früher war ich gesund, jetzt war ich krank. 

Früher war ich schön, jetzt war ich hässlich. 

Ich wollte so sehr diese Person von früher wieder sein, dass ich mich selbst im Spiegel nicht mehr ertrug. 

Ich lernte, mit gesenktem Blick durchs Leben zu gehen, damit ich mich selbst bloß nicht in irgendeiner Spiegelung oder in den Blicken der Menschen sehen musste.

Jetzt, ein Jahr nach meiner Diagnose, erkenne ich zumindest wieder Anteile von mir im Spiegel. Ich erkenne eine Frau, die viele Ähnlichkeiten mit der Person hat, die sie mal war. 

Das Lachen, die Gesichtszüge, die Bewegungen. 

Ich erkenne wieder Schönheit und Selbstvertrauen, Lebenslust und Freude.

Doch ich erkenne auch, dass die Frau mit den langen blonden Haaren nicht mehr da ist und auch nicht zurückkommen wird. 

Sie ist weg und ich weiß auch gar nicht mehr, ob ich sie wieder finden möchte, ob ich wieder diese Frau sein möchte. 

(Zugegeben, die kurzen Haare sind echt verdammt praktisch 😉.)

Ich schreite wieder erhobenen Blickes durch die Welt und ich liebs, denn ich sehe jetzt so viel mehr Schönes um mich herum, als ich es je zuvor gesehen habe. 

Sarah